Was juckt einen Spahn das Grundgesetz

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Timmie2
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Was juckt einen Spahn das Grundgesetz

Beitrag von Timmie2 »

Schwerstkranke können nicht mehr darauf hoffen, in Zukunft todbringende Medikamente kaufen zu können. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat das Bonner Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) am Freitag schriftlich auffordern lassen, "solche Anträge zu versagen...Damit weigert sich die Bundesregierung, ein umstrittenes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu beachten
Gesundheitsministerium verwehrt Schwerstkranken todbringende Medikamente

Na wenn's "umstritten" ist. Vielleicht sollte ich mich künftig auch weigern "umstrittene" Steuern zu zahlen. Geht's eigentlich noch?
Bundesverwaltungsgericht hat geschrieben:Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG umfasst auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Patienten, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben beendet werden soll, vorausgesetzt, er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln
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jaeckel
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Re: Was juckt einen Spahn das Grundgesetz

Beitrag von jaeckel »

Bundesverwaltungsgerich hat geschrieben:...vorausgesetzt, er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln...
Da liegen einige Problemfelder:
Ob es sowas wie den freien Willen überhaupt gibt, bestreiten nicht wenige Wissenschaftler, Philosophen und Erkenntnistheoretiker. Bei einem Schwerstkranken, der sich ggf. seiner/seinem Parterin/Partner oder seiner Familie gegenüber als schwere kaum zumutbare Last empfindet, ist diese Einschätzung nicht trivial. Auch der finanzielle Spielraum, sprich welche Hilfe/Therapie usw. kann man sich leisten, dürfte häufig den "freien Willen" so beeinflussen, dass er dann eben nicht mehr frei ist. Ist der Wunsch zu sterben nicht eben ein Symptom einer Depression? Ist der der depressive Patient frei in seinem Willen? Wenn man die Depression mit Chemie oft gut behandeln kann, hat das dann eher was mit Chemie als mit dem freien Willen zu tun? ... Es existieren mehr Fragen als einfache Antworten.
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Dr. med. Achim Jäckel
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Timmie2
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Re: Was juckt einen Spahn das Grundgesetz

Beitrag von Timmie2 »

Der Gegensatz der Positionen zwischen Ärzten und Patienten beruht doch nicht auf offenen Fragen sondern der (überholten) paternalistischen Einstellung, der Arzt könne aufgrund seines Fachwissens besser als der Betroffene selbst entscheiden was gut für ihn ist. Der Kern jeder Debatte um Sterbehilfe ist die Frage der Selbstbestimmung. Wer bestimmt über uns? Wir selbst oder andere? Die Ärzte, die Kirche, die Politik...?
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Re: Was juckt einen Spahn das Grundgesetz

Beitrag von Barnie Geröllheimer »

Mal abgesehen von juristischen Spitzfindigkeiten und Bewertungen...: Das Ganze mündet wieder in der Frage, ob ein Arzt bereit sein WILL, mittelbar oder unmittelbar zu töten.

@ Dr. Jäckel
Wenn ein Arzt Grund zur Annahme haben muss, dass ein Patient zumindest temporär nicht mehr "frei" in seinen Entscheidungen ist, dann ist eine solche Person auch nicht mehr geschäftsfähig und es dürfen keine Verträge und Vereinbarungen mehr mit dieser Person getroffen werden.
Ich glaube Ihnen sofort, dass alte und kranke Leute nicht zur Last fallen und den Kindern nicht auf der Tasche liegen wollen, aber ich bin ebenso der Überzeugung, dass die absolute Mehrzahl schmerzfrei gestellter Patienten sehr glaubwürdig sein kann, wenn sie von ihnen mehrfach wiederholt und wahrscheinlich auch begründet werden.
Hat dann der Arzt noch die wissenschaftliche Gewissheit, nicht mehr helfen zu können, muss der Patientenwille m.E. als ernsthaft und gültig anerkannt werden.

Meine Mutter ungezählte Male in ihrem Leben von sich gegeben, "manchmal möchte man nicht mehr da sein", dennoch wurde sie immerhin 77 Jahre alt und starb dann an Krebs, den sie nicht behandeln lassen wollte, weil sie die Konsequenzen der Chemo fürchtete und "man damit ja doch alles nur hinausschiebt". Manchmal war sie geistig fit, manchmal wirr im Kopf.
Aber jeder von uns hat gemerkt, wann sie ernstzunehmen war und wann nicht.
Ich glaube, manchmal gibt es im Leben nicht genug Steine
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Re: Was juckt einen Spahn das Grundgesetz

Beitrag von jaeckel »

Timmie2 hat geschrieben:Der Gegensatz der Positionen zwischen Ärzten und Patienten beruht doch nicht auf offenen Fragen sondern der (überholten) paternalistischen Einstellung, der Arzt könne aufgrund seines Fachwissens besser als der Betroffene selbst entscheiden was gut für ihn ist. Der Kern jeder Debatte um Sterbehilfe ist die Frage der Selbstbestimmung.
Meines Erachtens muss man pauschale Verallgemeinerungen, Unterstellungen und Vereinfachungen mögen, um sowas zu schreiben. Wenn man differenziert, gibt es m.E. in der Realität der Versorgung diese gegensätzlichen Positionen überhaupt nicht.
Barnie Geröllheimer hat geschrieben:...ob ein Arzt bereit sein WILL, mittelbar oder unmittelbar zu töten.
Gehört das denn zu seinen Aufgaben?
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Re: Was juckt einen Spahn das Grundgesetz

Beitrag von Timmie2 »

Dr. Jäckel hat geschrieben:Meines Erachtens muss man pauschale Verallgemeinerungen, Unterstellungen und Vereinfachungen mögen, um sowas zu schreiben...
Ich muss Ihnen ein Stück weit recht geben, ich hätte besser Ärztefunktionäre schreiben sollen. Die praktizierenden Ärzte sind -zumindest nach meinem Empfinden - meist schon deutlich weiter, aber die haben auch weniger Einfluss auf die Politik
Dr. Jäckel hat geschrieben:Gehört das denn zu seinen Aufgaben?
Wer soll's denn sonst machen, der Metzger?
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Re: Was juckt einen Spahn das Grundgesetz

Beitrag von jaeckel »

Timmie2 hat geschrieben:Die praktizierenden Ärzte sind -zumindest nach meinem Empfinden - meist schon deutlich weiter, aber die haben auch weniger Einfluss auf die Politik
Es kommt doch auf die an, die praktisch behandeln. Die Spielräume, die Politik, Berufsordnung und Gesetze uns geben, reichen m.E. dafür aus, was unserer Aufgabe ist. Linderung und auch Sterbebegleitung.
Timmie2 hat geschrieben:Wer soll's denn sonst machen, der Metzger?
Sie bringen da Ironie rein, wo keine hingehört. Sie begeben sich aufs Glatteis. Ihrer Meinung nach soll ein Arzt das Töten übernehmen. Provokant gefragt, wer kennt sich damit denn besser aus? Arzt oder Metzger?
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Re: Was juckt einen Spahn das Grundgesetz

Beitrag von Timmie2 »

Dr. Jäckel hat geschrieben:Sie bringen da Ironie rein, wo keine hingehört.
Manchmal muss man die Dinge beim Namen nennen
Dr. Jäckel hat geschrieben:Ihrer Meinung nach soll ein Arzt das Töten übernehmen. Provokant gefragt, wer kennt sich damit denn besser aus? Arzt oder Metzger?
Es geht hier um Suizidbeihilfe und nicht um aktive Sterbehilfe, beim Suizid legt nur einer Hand an und das ist der Betroffene selbst. Kein Arzt ist verpflichtet gegen sein Gewissen Suizidbeihilfe zu leisten, mit der neuen Gesetzeslage wird aber nicht mehr nach mehr Gewissen der Ärzte gefragt. Wer, wenn nicht der Arzt, hat die fachliche Kompetenz die Mittel dafür in die Hand zu geben? Ist mit den Verboten irgendwas erreicht? Stellen sie sich vor, Ihr Patient verlässt die Praxis und springt vor die nächste S-Bahn. Damit ist niemandem geholfen.
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Re: Den Zugang ermöglichen

Beitrag von Christianes Herz »

Eben darum ging es in dem Fall. Das Gericht hat es sich ja nicht leicht gemacht. Es hat umfangreich begründet, warum es richtig ist, in absoluten Notlagen einen Zugang zu dem allerletzten Medikament zu schaffen.
https://www.bverwg.de/020317U3C19.15.0

Alle ärztlichen Maßnahmen halfen der Schwerstkranken nicht, um sie von ihren Schmerzen zu befreien. Was bleibt dann noch? Amazon gibt es (noch) nicht her. Das Darknet? Das wiederum finde ich zynisch.
Und Timmie hat m. E recht. Der Staat duckt sich weg. Die Gesundheitsminister erheben sich über unser Grundgesetz und lassen die Menschen, die nun wirklich nicht mehr ein und aus wissen (s. o. Urteilsbegründung), vollends allein und entziehen sich mit wohlfeilen Reden jeglicher Verantwortung für die, die sich absolut nicht alleine helfen können.

Frdl. Grüße
Christiane
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Re: Was juckt einen Spahn das Grundgesetz

Beitrag von Barnie Geröllheimer »

jaeckel hat geschrieben:Gehört das denn zu seinen Aufgaben?
Ja, das sollte längst in einschlägigen Medizinfächern im Rahmen der Ausbildung thematisiert werden.

Das neue Genfer Gelöbnis versichert denn auch...:
THE HEALTH AND WELL-BEING OF MY PATIENT will be my first consideration;

I WILL RESPECT the autonomy and dignity of my patient;
Es gibt Gifte, die man zuhause herrichten kann. 2g reichen für alle Menschen in Berlin.
Könnte man einem Dahinvegetieren unter permanenten Schmerzen und/oder Apathie nicht mehr zusehen, bräuchte zumindest ich keinen Arzt.... :wink:
Ich glaube, manchmal gibt es im Leben nicht genug Steine
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Re: Was juckt einen Spahn das Grundgesetz

Beitrag von Humungus »

Barnie Geröllheimer hat geschrieben:2g reichen für alle Menschen in Berlin.
Könnte man einem Dahinvegetieren unter permanenten Schmerzen und/oder Apathie nicht mehr zusehen, bräuchte zumindest ich keinen Arzt.... :wink:
Ich hoffe, Sie sterben schmerzfrei und nicht unter schrecklichen Krämpfen etc. Ganz so einfach ist das nämlich nicht.
Augenarzt? Flatrate. Für nur 18 Euro all you can (tr)eat, ein ganzes Quartal lang! DAS ist heutige Gesundheitspolitik.
Barnie Geröllheimer
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Re: Was juckt einen Spahn das Grundgesetz

Beitrag von Barnie Geröllheimer »

Fentanyl darf der Arzt auch nicht geben?? :shock: :mrgreen:
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